Das Ende der Förderperiode ist häufig ein kritischer Zeitpunkt für Innovationsfondsprojekte. Werden sie nicht in die Regelversorgung übernommen, droht eben noch funktionierenden Versorgungsstrukturen die Bedeutungslosigkeit.

Mit dem Versorgungsverbesserungsgesetz (GPVG) will die Bundesregierung unter anderem ermöglichen, dass Innovationsfondsprojekte nach Ende des Förderzeitraums als Selektivverträge nach Paragraf 140a fortgesetzt werden können. Doch kann so gelingen, dass erfolgreiche Innovationsfondsprojekte nahtlos in die Versorgung übergehen? Und wenn nicht: Was muss getan werden, damit möglichst viele Versicherte von den Lösungen profitieren?

Die ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH hat bei Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Versorgung und Selbstverwaltung über das Versorgungsverbesserungsgesetz und deren Bedeutung für Innovationsfondsprojekte gesprochen. Der Tenor: Selektivverträge können ein wichtiges Instrument darstellen, viel wichtiger sei aber, erfolgreiche Projekte, zeitnah und kriteriengeleitet in die Regelversorgung zu bringen. Im Folgenden finden Sie die wichtigsten Fragestellungen und Statements.

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Prof. Dr. med. Susanne Schwalen, Geschäftsführende Ärztin Ärztekammer Nordrhein: „Selektivverträge können einen Einstieg in die Versorgungsrealität leisten.“
„Das Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit (BMG) hat den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege veröffentlicht. Das Gesetz enthält u.a. eine erweiterte Möglichkeiten für Selektivverträge: Die Regelungen der besonderen Versorgung nach § 140a SGB V sollen zielgerichtet auch auf regionale Bedarfe zugeschnitten und um neue Möglichkeiten zur Bildung von sozialleistungsträger-übergreifenden Netzwerken und von Versorgungsinnovationen erweitert werden. Dies wird es in Zukunft ermöglichen, dass erfolgreiche Innovationsfondprojekte nahtlos in die Versorgung übergehen können.
Nichtsdestotrotz sollte eine Evaluation von Nutzen und Schaden neuer Versorgungsformen im Rahmen von Innovationsfondprojekten auch weiterhin stattfinden. Damit verbunden sollte eine abschließende Empfehlung des Innovationsausschusses zur Überführung neuer Versorgungsformen im Rahmen von Innovationsfondprojekten für eine Verstetigung obligatorisch bleiben. Nur so kann die Qualität der Versorgung auf hohem Niveau gehalten beziehungsweise ausgebaut werden.
Selektivverträge können einen Einstieg in die Versorgungsrealität leisten. Sollte ein Innovationsfondprojekt eine abschließende positive Empfehlung des Innovationsausschusses erhalten, sollte eine Ausweitung des neuen Versorgungsansatzes in die Regelversorgung erwogen werden. Nur unter der Voraussetzung, dass positiv validierte und empfohlene neue Versorgungsformen in die Regelversorgung überführt werden, kann eine Versorgungsgerechtigkeit für Patientinnen und Patienten in der Fläche erreicht werden.“
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Prof. Dr. med. Gernot Marx, FRCA, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care der Uniklinik RWTH Aachen und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin e.V. (DGTelemed): „Wir brauchen zeitnahe Lösungen für alle.“
„Mit Telnet@NRW und der Vorstufe des Virtuellen Krankenhauses Nordrhein-Westfalen wurden in jüngster Vergangenheit erfolgreich telemedizinische Netzwerke realisiert, die mithilfe innovativer, digitalmedizinischer Instrumente nachweislich die Behandlungsqualität verbessern konnten.
So konnte die Evaluierung des Innovationsfondsprojekts TELnet@NRW u. a. eine starke Verbesserung bei der Sepsisbehandlung zeigen, die im Zweifelsfall Leben retten kann. Ähnlich gut sind ersten Zahlen der Vorstufe des Virtuellen Krankenhauses zur telekonsil-unterstützen Versorgung von COVID-19-Patienten. So lag beispielweise die Mortalität beim Virtuellen Krankenhaus mit 20,6 Prozent deutlich unter den Zahlen, die eine im Lancet erschienene Studie mit Daten von mehr als 10.000 AOK-Versicherten nennt (Juli 2020): Dort hat man bei beatmeten COVID-19-Patienten eine Krankenhausmortalität von 53 Prozent beobachtet.
Die Tele- bzw. Digitalmedizin kann somit einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Versorgungsqualität leisten. Die aktuelle Entwicklung rund um COVID-19 zeigt außerdem, dass wir zeitnahe Lösungen für ALLE brauchen. Sinnvolle innovative Projekte und Initiativen sollten daher schnell und ohne Umwege in die Regelversorgung überführt werden.“
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Matthias Blum, Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW): „Wir lehnen die selektivvertragliche Fortsetzung von Innovationsfondsprojekten ab.“

„Jedes Innovationsfondsprojekt braucht den Einsatz engagierter Menschen und deren Zusammenarbeit. Sollte sich ein Projekt als erfolgreich im Sinne der Patientenorientierung herausstellen, sollte es zwingend auch in die Regelversorgung mit einer Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung übernommen werden.
Nur durch die Überführung in das Versorgungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherungen kann dem Ziel einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung entsprochen werden. Die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW) lehnt dabei die selektivvertragliche Fortsetzung von Innovationsfondsprojekten im Interesse der Versorgung unserer Patientinnen und Patienten ab.
Die selektiven Einzelverträge zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen schränken de facto die Leistungsspektren einzelner Kliniken stark ein. Diese Reduktion des Leistungsangebotes in einzelnen Kliniken wirkt sich damit negativ auf die Ausbildungsqualität unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf die Notfallversorgung und die individuelle Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten aus. Darüber hinaus untergraben Selektivverträge den Grundsatz der Verantwortung und Planung für eine flächendeckende stationäre Versorgung, die dem jeweiligen Bundesland vorbehalten ist.“

 

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Günter van Aalst, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin e.V. (DGTelemed): „Grundsätzliche Versorgungsverbesserungen sollten für alle Bürgerinnen und Bürger verfügbar sein.“
„Grundsätzlich halten wir es für eine sehr gute Idee, die selektivvertraglichen Möglichkeiten der Krankenkassen zu stärken. Gerade bei regionalen Besonderheiten können diese ein gutes Instrument darstellen, um die Versorgung zu unterstützen. Leider können immer nur einzelne Versicherte von diesen Lösungen profitieren.
Grundsätzliche Versorgungsverbesserungen, wie wir sie uns aus den nachgewiesen guten Projekten aus dem Innovationsfonds erhoffen, sollten aber für alle Bürgerinnen und Bürger verfügbar sein.
Zu bedenken geben möchten wir außerdem, dass die Finanzierung der selektivvertraglichen Leistungen nicht aus dem Gesundheitsfonds heraus erfolgt. Die Bereitschaft der Krankenkassen kann daher verhalten sein.“
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Rainer Beckers, Geschäftsführer der ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH: „Man braucht eine kluge Mischung.“

„Erfolgreiche Innovationsfonds-Projekte haben inzwischen in einem geregelten Verfahren Anspruch darauf, dass die evaluierten Leistungen in die Vergütungskataloge integriert und so erstattungsfähig werden. Es hat sich in der Vergangenheit als wenig erfolgreich erwiesen, allein über Selektivverträge die Digitalisierung in das Gesundheitswesen hineinzutragen. Dabei kam es immer wieder zu den sogenannten „Insellösungen“.
Eine ganz entscheidende Barriere in der Vergangenheit war die der fehlenden Interoperabilität der entwickelten Lösungen. Das heißt, es wurden Technologien entwickelt und eingesetzt, die nicht im ausreichenden Maße interoperabel und anschlussfähig waren. So kam es zu einer „Abschottung“ der aufgebauten Strukturen gegenüber der Außenwelt. Das ist so nicht tolerabel. Man braucht Plattformen, die andere Lösungen integrieren können, sodass man in einer Art „Koexistenz“ unterschiedliche Ansätze anbieten und betreiben kann, diese aber im Wesentlichen unter technologischen Aspekten eine gemeinsame Infrastruktur nutzen.
Nach unserer Erfahrung, die wir in Projekten des Landes Nordrhein-Westfalen sammeln konnten, eignen sich für Selektivverträge aber dennoch telemedizinische Applikationen, die hochinnovativ sind und die man letztlich auch ethisch betrachtet gezielt einzelnen Bevölkerungsgruppen zukommen lassen kann. Das heißt also, dass man eine kluge Mischung braucht; einerseits aus selektivvertraglichen Regeln und andererseits der Aufnahme von telemedizinisch-gestützter Versorgung in die Vergütungskataloge. Außerdem ist es so, dass eine intersektorale Vergütung, also kooperatives Handeln in telemedizinischen Netzwerken, nur unzureichend über Vergütungspositionen in einzelnen Vergütungskatalogen geregelt werden kann.“
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Tom Ackermann, Vorsitzender des Vorstands der AOK NORDWEST, Mitglied im ZTG-Aufsichtsrat: „Es ist ein durchaus praktikabler Weg.“

„Die im Versorgungsverbesserungsgesetz vorgesehene Möglichkeit, dass Krankenkassen die vom Innovationsfonds geförderten Projekte auf freiwilliger Basis weiterführen können, ist durchaus ein praktikabler Weg. Damit lässt sich vermeiden, dass gute Versorgungsmodelle in einer Warteschleife landen, bis die Bewertung der Evaluationsergebnisse abgeschlossen ist. Erfolgreiche Versorgungsinnovationen oder ausgewählte Elemente daraus können nahtlos weiterentwickelt werden und lassen sich auch auf andere Regionen übertragen. Wichtig ist, dass dies auf freiwilliger vertraglicher Basis geschieht.
Damit in dieser Phase – also vor einer Überführung in die Regelversorgung – möglichst viele Versicherte davon profitieren können, muss der Beitritt zu solchen Verträgen allen Krankenkassen und weiteren geeigneten Vertragspartnern offen stehen. Das wäre mit den vorgesehenen Regelungen gewährleistet.“
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Dr. Michael Schwarzenau, Hauptgeschäftsführer der Ärztekammer Westfalen-Lippe: „Die zügige Integration von erprobten Innovationen in die Vergütungskataloge ist das A und O.“

„Mit dem Innovationsfonds hat der Gesetzgeber tatsächlich ein leistungsfähiges Instrument geschaffen, um aussichtsreiche Innovationen in die Versorgung zu bringen. Aus ärztlicher Sicht ist es permanent notwendig, die Versorgung weiterzuentwickeln und auch regionale Gegebenheiten anzupassen. Dafür können Selektivverträge ein wichtiges Instrument sein. Warum aber insbesondere nachgewiesenermaßen erfolgreiche Innovationen nicht allen Patientinnen und Patienten zur Verfügung gestellt werden sollten, ist schwer verständlich. Ich verstehe den Gesetzentwurf aber so, dass eher eine zusätzliche Möglichkeit zur Finanzierung eröffnet werden soll, die Projekten regional eine Fortsetzungsperspektive gibt. Das ist besser als nichts.
Die zügige Integration von erprobten Innovationen in die Vergütungskataloge ist das A und O. Immerhin muss der Innovationsausschuss nun innerhalb von drei Monaten nach Vorlage des Ergebnisberichtes eine Empfehlung zur Überführung der neuen Versorgungsform in die Regelversorgung aussprechen. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings bleibt abzuwarten, wie die Empfehlungen von den Spitzenverbänden im Anschluss umgesetzt werden. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Vergütungssysteme intersektorale Leistungen eigentlich nicht vorsehen. Das wird viele gute Sachen bremsen.

Insgesamt könnte man sich aber mehr Geschwindigkeit und wohl auch mehr Pragmatismus wünschen. Auch das lehrt uns die Pandemie. Wenn wir vor allem die Digitalisierung konsequenter angepackt hätten, könnten wir jetzt viel leichter unsere Versorgung auf einem höheren Niveau halten. Wie segensreich Telemedizin für Patienten in der Intensivmedizin sein kann, sieht man im Projekt Telnet@NRW, an dem wir mitbeteiligt waren. Wir sollten aber nicht auf Krisen warten, um die Hürden endlich zu überspringen.