Am 23. November 2020 diskutierten beim kostenfreien Online-Kongress „Digital Health: NOW!“ internationale Expertinnen und Experten darüber, wie die Digitalmedizin eine vernetzte, wertebasierte Versorgung in der EU ermöglichen kann. Der Tenor: Es existieren viele innovative Projekte, die das Potenzial haben, die Regelversorgung nachhaltig zu verbessern. Nun müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit auch alle Patientinnen und Patienten in der Europäischen Union von ihnen profitieren können.

„Wir müssen handeln, und zwar jetzt!“ Mit diesem eindringlichen Appell eröffnete Prof. Dr. med. Gernot Marx, Vorstandsvorsitzender der DGTelemed und Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care des Aachener Universitätsklinikums den Online-Kongress „Digital Health: NOW!“. Das Event fand gestern erstmals als Teil des assoziierten Programms des Bundesministeriums für Gesundheit im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 statt. Dabei stand als zentrale Frage im Raum, wie die Digitalmedizin eine vernetzte, wertebasierte Versorgung in der EU ermöglichen kann. Als Veranstalter fungierten die Deutsche Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed), das Innovationszentrum Digitale Medizin der Unikinik RWTH Aachen (IZDM) und die ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH.
Die COVID-19 Pandemie hat es nachdrücklich aufgezeigt: Herausforderungen, die die Gesundheitsversorgung betreffen, kennen keine nationalstaatlichen Grenzen. Die aktuelle Aufnahme von COVID-19 Patientinnen und Patienten u. a. aus Belgien und den Niederlanden in deutsche Krankenhäuser verdeutlicht, wie sinnvoll eine europaweit vernetzte Gesundheitsversorgung ist, um mit den vorhandenen Ressourcen wie beispielsweise der Verfügbarkeit von Intensivbetten international planen zu können. Welche Schlüsselrolle die Digitalmedizin in diesem Zusammenhang spielen wird, konnten die Expertinnen und Experten in ihren Vorträgen und Diskussionen beim Online-Kongress verdeutlichen.
Digitale Medizin in Europa? Eine Bestandsaufnahme.
Anhand von einigen ausgewählten Vorzeigeprojekten wurde aufgezeigt, in welchen Bereichen die Digitalmedizin schon heute die Versorgung verbessert. Im Zentrum einiger Vorträge stand das Virtuelle Krankenhaus Nordrhein-Westfalen beziehungsweise dessen Vorstufe, die im März dieses Jahres binnen weniger Tage realisiert wurde. Beim Virtuellen Krankenhaus Nordrhein-Westfalen handelt es sich um die „telemedizinisch digitale Vernetzung zwischen Konsil-Nehmern und Konsil-Gebern zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit schweren Krankheitsbildern“, schilderte Dr. Edmund Heller, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Ziel ist es, Wissen und Können der Spitzenmedizin durch die neuen, durch die Digitalisierung gegebenen Möglichkeiten in der Fläche, also in den Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung und bei den niedergelassenen Ärzten, verfügbar zu machen.

Dr. med. Sandra Dohmen bei einem Live-Telekonsil.

Die Vorstufe des Virtuellen Krankenhauses Nordrhein-Westfalen adressiert die intensivmedizinische Versorgung von schwer erkrankten COVID-19-Patienten. Krankenhäuser hatten und haben hier die Möglichkeit, die fachmedizinischen Zentren für Intensivmedizin in den Universitätskliniken Münster und Aachen mittels Telekonsil zu kontaktieren und nach ihrer Einschätzung zu schweren COVID-19-Verläufen zu fragen. Wie das konkret abläuft, zeigte Dr. med. Sandra Dohmen vom IZDM in einem Live-Telekonsil. Zum 1. Dezember wird nun eine gGmbH gegründet, die den weiteren Ausbau des Virtuellen Krankenhauses Nordrhein-Westfalen koordinieren soll. Prof. Dr. med. Thomas Ittel, Vorstandsvorsitzender der Uniklinik RWTH Aachen, stellte die zukünftigen Pläne für das Virtuelle Krankenhaus Nordrhein-Westfalen vor: „Das Virtuelle Krankenhaus soll mit weiteren Indikationen weiter aufgebaut werden.“ So soll in verschiedenen, fachmedizinischen Zentren in ganz NRW insgesamt sechs verschiedene Indikationen behandelt werden. Langfristig soll es darum gehen, eine „telemedizinische Vernetzungslandschaft“ zu schaffen, in der alle Zentrum miteinander verschaltet werden.
Einen Blick über nationalstaatliche Grenzen hinaus verschafften die Präsentationen von Dr. Christoph Klein von der Europäischen Kommission, Prof. Dr. Isis Amer Wåhlin, Digital Health Lab, Research Institute of Sweden, und Elaine Finucane, Mitglied im Forschungsgremium der NUI Galway, Irland. Klein stellte unter anderem das EU-Projekt „ICU4Covid“ vor, das EU-Bürgerinnen und -Bürgern sowie dem Gesundheitspersonal schnell und in großem Maßstab intensivmedizinische Strukturen bieten soll, die für den Kampf gegen COVID-19 geeignet sind. Gelingen soll dies mit europaweiten „Hub“-Strukturen, die jeweils ein intensivmedizinisches Zentrum mit miteinander verbundenen Intensivstationen in peripheren Krankenhäusern verbinden. So sollen Daten- und Wissen ausgetauscht und die Behandlungsqualität zu verbessert werden.
Durch die Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens und der medizinischen Versorgung werden mehr und mehr Daten generiert, die oft ungefiltert im Netz landen – insbesondere in Bezug auf die COVID-19-Pandemie. Um Patienten angesichts dieser Informationsflut Orientierung zu bieten und auch „Fakenews“ leichter von wahren Informationen unterscheiden zu können, wurde iHealthFacts ins Leben gerufen. Finucane stellte die Online-Plattform, die mithilfe von wissenschaftlicher Evidenz die Informationen bewertet, in ihrem Vortrag vor.
Eine digitale Versorgung, und zwar jetzt. Aber wie?
Die Dringlichkeit, nun zur Tat zu schreiten und die Digitalisierung der Versorgung zu forcieren, wie sie Marx mit seinen Eingangsworten formulierte, wurde in einer Vielzahl der Vorträge postuliert.

Diskussionsrunde mit Moderator Jürgen Zurheide, Dr. Christoph Klein, Dr. Edmund Heller, Andreas Westerfellhaus

Ganz klare Forderungen hierzu formulierte Andreas Westerfellhaus, Bevollmächtigter des Bundes für Pflege, in seinem Vortrag „Innovative Pflege in Deutschland – ein Zukunftsweg für Europa“. Nicht nur an die (nationale) Politik, dessen föderalistische Struktur in den vergangenen Jahrzehnten auf vielen Ebenen zu einer Untätigkeit resultierte. Westerfellhaus adressierte auch ganz klar die Industrie, indem er herausstellte, wie wichtig praxistaugliche und interoperable Lösungen seien. Besonders die Relevanz der elektronischen Patientenakte hob er in diesem Zusammenhang hervor; sie sei, gemeinsam mit einer sicheren Vernetzung von Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern mit Ärztinnen und Ärzten und anderen Behandlern, „der Dreh und Angelpunkt für die bessere Patientenversorgung“.
Wie sieht die Zukunft einer digitalen, europäischen Versorgung aus?
Wie eine solche Patientenakte konkret aussehen könnte, zeigte Prof. Dr. Erwin Böttinger, Leiter des Fachgebiet Digital Health am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, mit der Vorstellung des EU-Projektes „Smart4Health“. „In dem Projekt geht es darum, die Gesundheit für den einzelnen Menschen zu verbessern. Wir entwickeln eine Plattform, über die nach höchsten Sicherheitsstandards über Ländergrenzen hinweg sensible Gesundheitsdaten verfügbar gemacht und geteilt werden können“, schilderte Böttinger. „Wir wollen relevante Daten für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität mit medizinischen Daten zusammenführen.“
Wie wichtig diese medizinischen Daten für eine zielgerichtete Behandlung sind, arbeiteten Prof. Dr. Carina Benstöm von der Uniklinik RWTH Aachen und Prof. Declan Devane, Professor für Hebammenwesen und Dekan im College of Medicine, Nursing and Health Sciences, NUI Galway, Irland in ihrem gemeinsamen Vortrag heraus. „Behandlungsentscheidungen sollten immer auf einer sorgfältigen Erfassung, Bewertung und Interpretation der aktuell besten Evidenz beruhen“, so Benstöm. Wenn jedoch nicht ausreichend Daten vorhanden sind, wie zu Anfang der COVID-19-Pandemie, sei es fast unmöglich, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Mit den Projekten CEOSys und COVID-NMA stellten Benstöm und Devane internationale, wissenschaftliche Kollaborationen vor, mithilfe derer „in Echtzeit“ neue wissenschaftliche Erkenntnisse schnellstmöglich auf ihre Qualität überprüft und Anwendern, Entscheidungsträgern sowie Bürgern zur Verfügung gestellt werden können.
Einen Blick in die Zukunft warf Prof. Dr. Andreas Schuppert vom Aachen Institute for Advanced Study in Computational Engineering Science (AICES), der die Risiken und Chancen der KI-gestützten Medizin präsentierte. „Prinzipiell ermöglicht KI die Nutzung von Informationen aus sehr vielen Daten. Mehr Daten, als ein Mensch jemals bewältigen kann. So können auch seltene, sehr spezifische Muster in Daten durch KI interpretiert werden, die ein Arzt möglicherweise noch nie gesehen hat“, erklärte Schuppert. Die KI gebe dem Behandelnden so eine zusätzliche „Brille“: sie erlaube ihm, komplexe Zusammenhänge zu sehen, die sich aus dem Zusammenspiel der vielen verschiedenen Daten ergeben. Für die Ärztin oder den Arzt wird es dadurch einfacher, Prognosen darüber zu treffen, wann ein bestimmter Behandlungsschritt im Optimalfall erfolgen sollte.
Der Einsatz von Big Data und KI sei momentan allerdings noch Zukunftsmusik, denn die benötigten Systeme würden derzeit erst entwickelt. Schuppert: „Um sie zum Routineeinsatz zu bringen, sind danach vielfältige Tests und klinische Studien nötig, um ihre Betriebssicherheit zu garantieren.“
Verleihung des Digital Health Award

Dr. Katharina Ladewig von EIT Health, Moderator Jürgen Zurheide und der Preisträger der Awards.

Erstmals wurde im Rahmen des Online-Kongresses unter der Schirmherrschaft von Herrn Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen wird der „Digital Health Award“ vergeben.
Den ersten Platz belegen TeleDoc-Mobile, die einen mobilen TeleDoc-Rollständer entwickelt haben, der sich direkt zum Patienten bewegen lässt und der für die Videokonsultation mit dem behandelnden Arzt genauso einsetzbar ist, wie für die Erhebung von Vitalparametern. Der zweite Platz ging an Ancora.ai for clinical trials, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Informationen zu klinischen Studien zu sammeln und auf einer Website zur Verfügung zu stellen. So können Patienten, ihre Angehörigen und Fachleute des Gesundheitswesens alle potenziellen Behandlungsoptionen evaluieren. Den dritten Platz belegen munevo DRIVE, die eine proportionale Kopfsteuerung für elektrische Rollstühle, basierend auf Smartglasses entwickelt haben. Der NRW- Sonderpreis ging an die FIMO Fatigue-App, mithilfe derer Fatigue-Betroffene individuelle Unterstützung im Umgang mit ihren massiven Ermüdungszuständen erhalten.